In Deutschland werden viel zu wenig Wohnungen gebaut. Doch der schleppende Wohnungsbau ist nur die Spitze des Eisbergs. Die Ampel sollte handeln, denn am Bau droht eine Krise, die Energiewende, Klimapolitik und Wohlstand gefährdet.
Ein Blick auf den Bau zeigt, was in Deutschland falsch läuft, warum unsere Landstraßen zerbröseln und was die Ampelkoalition tun muss, um unsere Wirtschaft zu retten. Der Blick zeigt auch, warum diese Maßnahmen fast Unmögliches erfordern. Sieben Punkte erklären, wieso Deutschland sein größtes Problem übersieht.
1. Der Bau stützt das Land
Das passiert: Die Welt spricht viel über KI und grüne Technologien. Doch der Bausektor bleibt das Herz jedes Wirtschaftswunders. Drei Punkte erklären, warum:
1. Das Baugewerbe macht sechs Prozent der Wirtschaftsleistung aus.
2. Vorleistungen durch Lieferanten eingerechnet, steigt der Anteil um rund die Hälfte. Ohne Bau bricht die deutsche Wirtschaftsleistung um rund zehn Prozent ein.
3. Indirekt hängt Deutschlands gesamter Wohlstand am Bau: Bauwerke verfallen. Ohne neue Büros und Fabriken leisten Unternehmen immer weniger. Ohne neue Straßen und Schienen gelangen Waren, Angestellte und Kunden nicht in Geschäfte. Ohne neue Häuser fehlt Wohnraum. Verträge über neue Chipfabriken und Pläne für grüne Kraftwerke nützen wenig, wenn sie niemand baut. Der Bau errichtet das Fundament, auf dem der Wohlstand des Landes wächst.
Das Baugewerbe wirkt wie ein kleiner Teil der Wirtschaft, aber es trägt alle anderen Teile
Anteil von Wirtschaftszweigen an der Wirtschaftsleistung im Jahr 2023
Fazit: Wer wissen will, wo ein Land in zehn oder 20 Jahren steht, muss sich seine Bautätigkeit anschauen. Wenn ein Land wenig baut, kann es auf Dauer nicht wachsen. Dann leidet der Wohlstand.
Das Problem: Das Herz des deutschen Wohlstands krankt. Deutschland baut seit Jahrzehnten wenig. Auch wenn es auf den ersten Blick anders scheint.
2. Deutschland investiert viel in den Bau
Das passiert: Im europäischen Vergleich steckt die Bundesrepublik recht viel Geld in den Bau: Rund zwölf Prozent der Wirtschaftsleistung fließen in Gebäude und Infrastruktur. Die Schweiz (neun Prozent) und Österreich (elf Prozent) investieren weniger.
Auch der Anteil des Baus an der gesamten Wirtschaftsleistung steigt seit Jahren. Seit 2016 fließt ein immer größeren Teil des deutschen Geldes in die Bauwirtschaft.
Deutschland steckts bereits viel Geld ins Bauen
Bauinvestitionen im Vergleich zum Bruttoinlandsprodukt nach Ländern:
Fazit: Das Bauen verschlingt heute deutlich mehr Geld als vor einigen Jahren.
Das Problem: Mehr Geld fürs Bauen wäre ein Vorteil, wenn im Gegenzug die Leistung stiege. Tut sie aber nicht.
3. Deutschland baut weniger, aber teurer
Das passiert: Dass die Bundesrepublik im Europavergleich eher mehr in den Bau investiert als die meisten Länder, liegt vor allem an der Inflation. Preissteigerungen herausgerechnet, investierte Deutschland vor 30 Jahren rund die Hälfte mehr ins Bauen als heute.
Fazit: Deutschland baut derzeit nicht viel. Es baut vor allem teuer. Seit dem Jahr 2000 haben sich die Baukosten in etwa verdoppelt.
Viel mehr Aufwand, aber fast gleiches Ergebnis
Deutschland baut seit 2016 kaum mehr, steckt aber deutlich mehr Geld in den Bau
Das Problem: Baut Deutschland teuer, merken das alle Menschen im Geldbeutel. Unternehmen geben die Mehrkosten für Büros, Fabriken und Geschäfte an die Kunden weiter. Diese zahlen zudem mehr Steuergelder für Straßen und Bahnen sowie einen höheren Anteil ihres Gehalts für Wohnungen und Häuser.
4. Einmal weniger bauen, lange weniger bauen
Das passiert: Der Einbruch am Bau droht zu wiederholen, was sich bereits in den 2000er-Jahren ereignete: Damals bauten Bauunternehmen infolge der Auftragsflaute Personal ab, verkauften Maschinen oder bestellten ausgedientes Gerät nicht nach, zeigt eine Auswertung des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW). Deutschland baute wenig und konnte gar nicht mehr bauen.
Als die Zinsen Ende der 2000er sanken, kehrte sich die Entwicklung langsam um. Die Deutschen bauten mehr, Bauunternehmen kauften wieder mehr Maschinen, die Gesamtarbeitszeit aller Bauarbeiter stieg. Trotzen lagen beide Werte weiter deutlich unter ihren Höchstständen der 1990er Jahre: weniger Leute, weniger Maschinen. Weniger Grundlagen für neuen Wohlstand.
Fazit: Die Bauwirtschaft ist träge. Baut sie einmal Kapazitäten ab, braucht sie Jahre oder Jahrzehnte, um sie wieder aufzubauen.
Das Problem: Derzeit baut die deutsche Bauwirtschaft erneut Kapazitäten ab. In einer Zeit, in der viele Unternehmen auf neue Kraftwerke und 5G-Netze hoffen, um ihre Produktion in Deutschland halten zu können, verliert Deutschland seine Fähigkeit, diese Infrastruktur zu bauen.
Selten so wenig zu tun
Über die Hälfte der Wohnbauunternehmen leidet unter Materialmangel
Das Problem liegt tiefer. Weniger Personal allein wäre kein Problem, wenn die Bauwirtschaft den Personalabbau durch höhere Produktivität ausgleichen könnte. Das tut sie aber nicht. Auch das treibt die Kosten in die Höhe.
5. Kein Fortschritt, keine Leute, hohe Kosten
Das passiert: Fast alle Branchen entwickelten sich seit den 1990er-Jahren dank Computern und Internet immens weiter. Heute leisten sie auch mit weniger Personal mehr, weil jeder Mitarbeiter mehr leistet. Der Bau verschlief diesen Fortschritt, urteilt das IW. Nun begrenzt noch der Fachkräftemangel dessen Leistungsfähigkeit.
Fazit: Deutschland begegnet den Herausforderungen der 2020er-Jahre – Wirtschaft umbauen, Infrastruktur modernisieren, Wohnraum schaffen, Energieversorgung neu aufstellen –, mit einem Bau auf technischen Stand der 1990er.
Das Problem: Die Produktivitätsflaute am Bau verteuert und verzögert den Umbruch in Deutschland. Damit verlängert sie die Zeit, während der Unternehmen ins Ausland abwandern oder pleite gehen.
6. Politik und Gesellschaft verhindern Lösungen
Das passiert: Der Bau wird produktiver, indem er mehr Leute einstellt oder pro Mitarbeiter mehr leistet. Weil der Bau in einer fachkräftedarbenden Wirtschaft kaum kurzfristig viele neue Arbeitskräfte findet, bleibt nur die Option, produktiver zu werden. Die Politik verhindert durch überbordende Bürokratie aber, dass Bauunternehmen in Produktivität investieren, sagen die IW-Experten.
– Zu wenig Flächen: Für den Bau von Wohnungen, Fabriken und Windrädern fehlt geeignetes Land. Bauunternehmen investieren nicht in mehr Produktivität, solange sie angesichts mangelnder Flächen ohnehin nicht mehr bauen können. Der Wohnungsbau macht mit rund 60 Prozent den mit Abstand größten Teil der Bauwirtschaft aus. Erleichterungen dort helfen besonders.
– Zu viel Bürokratie: Bauprojekte bei Schienen und Straßen verschlingen im Schnitt Jahrzehnte: Bauämter leiden unter den gleichen Problemen wie Baufirmen: kaum Personal, kaum Digitalisierung. Hinzu kommen zeitaufwendige Umweltschutzprüfungen und die Trennung von Bauen und Planen bei öffentlichen Projekten, die viele Kommunikationsprobleme schafft. Bauunternehmen brauchen nicht schneller bauen, solange die Behörden langsam arbeiten.
– Wechselnde Standards: Fertigbauteile könnten die deutschen Baukosten senken. Örtlich unterschiedliche Vorgaben und immer neue Bundesregeln verhindern aber deren Einsatz: Bauunternehmen scheuen teure zentrale Produktionen, wenn sie damit nur einen kleinen Teil der Republik beliefern können und jederzeit neue Regeln fürchten müssen, die ihre Produktion umwerfen.
Fast 23 Jahre…
… dauert ein Bauprojekt im Bereich Schiene im Mittel in Deutschland
Fazit: Will Deutschland mehr bauen, braucht es mehr Flächen, einheitlichere und einfacher Vorgaben sowie schnellere Verfahren.
Das Problem: Einige Probleme erscheinen lösbar: Künstliche Intelligenz und Digitalisierung vereinfachen Verwaltungsaufgaben trotz Personalmangel. Ämter und Politik lassen aber wenig Willen erkennen, diese Lösungen umzusetzen, bemängelt das IW. Andere Probleme entziehen sich dem Einfluss der Politik: Bauflächen fehlen auch, weil Anwohner und Umweltschützer gegen Großprojekte klagen.
Diese hausgemachten Probleme verteuern das Bauen in Deutschland und verhindern mit, dass sich das Land an Energieprobleme und Klimawandel anpasst. Lösen könnte sie nur ein Mentalitätswandel. Doch der erfordert meist Jahrzehnte. Und – derzeit genauso schwierig – er erfordert Geld.
7. Am Ende scheitert alles am Geld
Das passiert: Bauflächenprobleme und Anwohnerdiskussionen bremsen längst nicht alle Projekte. Deutsche Straßen, Schienen und Stromnetze erfordern dringend Reparaturen. Laut einer Studie des Deutschen Instituts für Urbanistik müssten allein Städte und Gemeinden aber knapp 350 Milliarden Euro in dringende Instandhaltungen in ihre Verkehrswege investieren. Bund und Länder eingerechnet, müsste der Staat bis 2030 jährlich über 100 Milliarden Euro investieren.
Saniert der Staat seine Verkehrswege, kurbelt er die Bauwirtschaft mit wenig Flächenverbrauch an. Die neuen Bau-Kapazitäten senken die Kosten für Häuser, Fabriken und andere Projekte. Die Wirtschaft profitiert von der besseren Infrastruktur.
Trotzdem steckt der Staat zu wenig Geld in die Infrastruktur. Inflationsbereinigt stagnieren die Investitionen in diesen Bereichen seit 2016. Für mehr fehlt das Geld.
Fazit: Will Deutschland seine gesamte Infrastruktur instandsetzen, muss es auf Jahre mehr investieren, als es Schuldenbremse und knappe Kassen zulassen.
Das Problem: Weil der Staat zu wenig baut, entgeht Deutschland laut IW bis 2030 rund ein Prozent Wirtschaftswachstum. Der langfristige Nutzen der Investitionen übersteigt wahrscheinlich ihre Kosten. Trotzdem bleiben sie unfinanzierbar. Zumindest, solange die Bundesregierung weder die Schuldenbremse ändert noch ein Sondervermögen auflegt, wie dies Wirtschaftsexperten fordern.
Deutschland bremst sich derzeit selbst aus. Zu viele Vorschriften, zu wenige Flächen, kein Geld. Trotz Zeitenwende, Wirtschaftswende, Energiewende, beraubt sich das Land der Bauwirtschaft, ohne die alle Wenden scheitern. Die Politik kann sich entscheiden, welchen Stolperstein sie zuerst ausräumt. Fängt sie nicht langsam mit irgendeinem an, wird es aber noch teurer.
Quelle: FOCUS Online