Die Europäische Zentralbank erhöht angesichts der Rekordinflation erstmals seit elf Jahren die Zinsen im Euroraum. Der Leitzins steigt unerwartet kräftig von Null auf 0,50 Prozent, der Negativzins für geparkte Gelder entfällt.
Angesichts der deutlich gestiegenen Inflationsrate hat die Europäische Zentralbank (EZB) nun reagiert und erstmals seit 2011 die Leitzinsen für die Eurozone erhöht. Die Währungshüter um EZB-Chefin Christine Lagarde beschlossen, den sogenannten Hauptrefinanzierungssatz um einen halben Punkt auf 0,5 Prozent zu erhöhen. Dieser Zinssatz gilt, wenn sich Geschäftsbanken bei der Zentralbank Geld für einen längeren Zeitraum leihen. Auch der sogenannte Einlagensatz wurde angehoben, und zwar von minus 0,5 Prozent auf 0,0 Prozent. Banken müssen somit nicht mehr draufzahlen, wenn sie überschüssiges Geld über Nacht bei der EZB parken.
Die Wende der EZB gilt als historisch: Sie folgt auf eine Ära der ultra-lockeren Geldpolitik. Doch die Rekordinflation im Euroraum bewegte die Zentralbank nun zu dem ungewöhnlich kräftigen Straffungsmanöver: Erstmals seit dem Jahr 2000 hoben die Währungshüter die Leitzinsen um 0,5 Prozentpunkte an. In ihrer vorangegangenen Sitzung hatte die EZB lediglich eine Erhöhung um 0,25 Prozentpunkte angekündigt. Doch das wurde bereits in den vergangenen Tagen vielfach als nicht ausreichend eingeschätzt in Anbetracht der Rekordinflation von zuletzt 8,6 Prozent in der Eurozone.
„Der EZB-Rat gelangte zu der Einschätzung, dass im Zuge seiner Leitzinsnormalisierung ein größerer erster Schritt angemessen ist als auf seiner letzten Sitzung signalisiert“, teilte die Notenbank nach ihrer Entscheidung mit. Zugleich machte sie deutlich, dass in den nächsten Monaten weitere Zinserhöhungen folgen werden. Bei den kommenden Sitzungen werde eine weitere Normalisierung der Zinssätze angemessen sein. Der EZB-Rat werde zu einem Ansatz übergehen, bei dem Zinsbeschlüsse von Sitzung zu Sitzung gefasst würden. „Der künftige Leitzinspfad des EZB-Rats wird weiterhin von der Datenlage abhängen und dazu beitragen, dass das Inflationsziel des EZB-Rats von zwei Prozent auf mittlere Sicht erreicht wird.“
Neues Anti-Krisen-Programm
Flankierend zur Zinswende haben sich die Währungshüter auf ein neues Krisenprogramm mit der Bezeichnung „Transmission Protection Instrument“ (TPI) geeinigt. Ziel des Programms ist es Lagarde zufolge, Staaten bei Turbulenzen an den Finanzmärkten unterstützen zu können.
Es sei für spezielle Situationen und Risiken geschaffen worden, die jeden Staat treffen könnten. Somit soll auch jedes Land in der Eurozone von dem Programm profitieren können. Die EZB wolle damit „ungerechtfertigten, ungeordneten Marktdynamiken“ entgegenwirken, die eine ernsthafte Bedrohung für die Wirkung der Geldpolitik im Euroraum darstellen. Der EZB-Rat werde bei Bedarf darüber entscheiden, ob dieses Programm für ein Land aktiviert werde. Dabei würden die Währungshüter eine Reihe von Indikatoren als Kriterien heranziehen. Der EZB-Rat werde darüber selbst entscheiden, betonte Lagarde.
Im Rahmen des TPI-Programms will die EZB notfalls mit Kauf von Staatsanleihen einschreiten, sollten die Zinsen für Wertpapiere eines Euro-Landes durch Finanzspekulation unverhältnismäßig stark in die Höhe schnellen. TPI werde somit sicherstellen, „dass unser geldpolitischer Kurs reibungslos auf alle Länder des Euroraums übertragen wird“, sagte Lagarde. Die EZB würde TPI lieber nicht nutzen, versicherte sie. „Aber wenn wir es nutzen müssen, werden wir nicht zögern.“
Möglicher Bedarf Italiens noch kein Thema
Die Renditen der Staatsanleihen der Euro-Länder waren im Zuge der erwarteten Zinswende in den vergangenen Monaten gestiegen. Denn mit der Abkehr von der ultralockeren Geldpolitik blicken Investoren auch wieder verstärkt auf die unterschiedlichen Risiken, wenn sie Anleihen eines bestimmten Staates kaufen.
Die Renditen stark verschuldeter Euro-Länder wie Italien legten zuletzt besonders stark zu. Zeitweise waren die Renditeabstände zwischen den Staatsanleihen verschiedener Euro-Staaten so stark gestiegen, dass Befürchtungen aufkamen, es könne womöglich eine neue Euro-Krise heraufziehen. Denn mit dem Renditeanstieg erhöhen sich für die Länder die Finanzierungskosten.
Mit Blick auf die aktuelle Entwicklung in Italien nach dem Rücktritt von Ministerpräsident Mario Draghi lehnte Lagarde zwar eine Kommentar ab. „Die EZB nimmt keine Stellung zu politischen Angelegenheiten“, sagte sie. Jedoch erklärte Lagarde auf Nachfrage nach einer möglichen Unterstützung Italiens durch das neue TPI-Programm: Der EZB-Rat werde genau bewerten, ob ein Land am TPI teilnehmen könne, wenn es soweit sei. Teil der Bedingungen für die Teilnahme am TPI-Programm ist laut EZB eine solide und nachhaltige Wirtschaftspolitik.
Quelle: tagesschau